Narzissmus vestehen

Narzissmus beschreibt ein komplexes psychologisches Phänomen, bei dem eine übermässige Selbstzentrierung, ein starkes Bedürfnis nach Bewunderung und ein Mangel an Empathie im Vordergrund stehen. Der Begriff wird oft missverstanden und auf selbstverliebtes Verhalten reduziert, doch er beschreibt tiefergehende innere Prozesse und Herausforderungen, die aus einer gestörten Persönlichkeitsentwicklung resultieren können. Im Kern handelt es sich um den Versuch, eine innere Leere und Unsicherheit mit äusseren Erfolgen, Aufmerksamkeit und Bestätigung zu füllen.

Was ist Narzissmus?
Narzissmus zeigt sich häufig durch Grandiosität, ein übertriebenes Selbstbild, das sich oft in Prahlerei und der Überhöhung eigener Leistungen äussert.
Das Bedürfnis nach Bewunderung von anderen ist riesig und geht einher mit einem Mangel an Einfühlungsvermögen. Die ständige Suche nach externer Anerkennung ist nötig, um die innere Unsicherheit zu überdecken. Narzisstische Menschen neigen dazu, andere kleinzumachen, zu kritisieren oder zu kontrollieren. Die Abwertung anderer hilft das eigene fragile Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Der Fokus liegt nicht auf Beziehung, Intimität oder gegenseitigen Austausch, sondern auf Kontrolle, Bestätigung, Macht und Bewunderung.

Was ist narzisstische Not?
Menschen in narzisstischen Nöten fühlen sich innerlich leer und isoliert. Sie haben oft das Gefühl, nur dann wertvoll zu sein, wenn sie bewundert werden. Ihr Selbstwertgefühl hängt vollständig von äusserer Bestätigung ab. Ihr „wahres Selbst“ konnte nicht entwickelt werden, da sie in ihrem Wesen und Sein nicht angenommen wurden. Beziehungen sind schwierig, da sie nicht auf Verbundenheit und Intimität, sondern auf Kontrolle und Applaus ausgerichtet sind.

Wie entsteht Narzissmus?
Die Wurzeln narzisstischer Schwierigkeiten liegen häufig in der frühen Kindheit, geprägt durch Bindungspersonen, die eine klare Vorstellung darüber haben, wie ihr Kind sein sollte. Statt Bestätigung für sein „Sein“ erfährt das Kind Missachtung seines Wesens und Beschämung.

Emotionale Vernachlässigung
Kinder, die nicht in ihren Bedürfnissen gesehen oder ernst genommen werden, fühlen sich in ihrer Existenz nicht bestätigt. Die Unfähigkeit der Bindungspersonen, ihre Authentizität zu akzeptieren, vermittelt Kindern den Eindruck, „falsch“ zu sein.

Bedingte Liebe
Eltern, die Liebe an Bedingungen knüpfen, bringen Kinder so dazu, sich von ihrem wahren Selbst zu entfremden. Ein Beispiel: Ein sensibles Kind wird ermutigt, kühn oder dominant zu sein, um elterliche Anerkennung zu gewinnen. Das Kind beginnt eine Fassade aufzubauen, um die Anerkennung zu erhalten. Je mehr Zuwendung es für das gewünschte Verhalten erhält, desto eher wird es sich mit diesem „Bild“ oder „Konstrukt“ über sich identifizieren.

Scham und Verleugnung
Nicht wahrgenommene Kinder entwickeln Schamgefühle. Sie entwickeln die Überzeugung, nicht gut genug oder nicht liebenswert zu sein. Um diese Scham nicht zu fühlen, bauen sie ein ein grandioses Selbstbild auf. Das hilft die Unsicherheit zu kompensieren. So entsteht der grandiose Narzissmuss. Vulnerable Narzissten verstecken ihr Verlangen nach Macht und Bestätigung hinter der Fassade von zur Schau gestellten Bescheidenheit sogar Sanftmut. Sie sind hypersensibel und ertragen keine Kritik. Unter der Maske verbirgt sich eine unbewusste Unterlegenheit und innere Leere.

Wie wirkt sich Narzissmus auf Beziehungen aus?
Menschen in narzisstischer Not streben nach Kontrolle. Echte Nähe fürchten sie, da sie diese mit Abhängigkeit verwechseln. Sie benötigen Applaus und Bestätigung. Die Fähigkeit empathisch auf andere einzugehen ist nicht entwickelt. Es gibt keine Resonanz auf Bedürfnisse anderer. Diese sind „unwichtig“. Der Partner wird zuerst idealisiert. Doch wenn Anerkennung und Applaus nachlassen, wechseln sie Beziehungen, um neue Quellen der Bestätigung zu finden.

Unterschiede zwischen „gesundem“ Selbstwert und Narzissmus
Ein gesundes Selbstwertgefühl beruht auf innerer Stärke und dem Wissen, liebenswert und kompetent zu sein. Es ist unabhängig von äusseren Erfolgen.
Narzissmus resultiert aus einem instabilen Selbstwertgefühl, das permanent externe Bestätigung braucht, um die innere Leere und Scham zu überdecken.

Fazit
Narzissmus ist keine Entscheidung oder bewusste Charakterschwäche, sondern häufig eine Überlebensstrategie, die aus früher emotionaler Vernachlässigung oder verletzenden Bindungserfahrungen entstanden ist. Um Menschen in narzisstischen Nöten zu verstehen und zu begleiten, ist es wichtig, nicht nur ihr Verhalten zu bewerten, sondern die tiefen Ängste und Unsicherheiten zu erkennen, die ihr Handeln antreiben.

Anfällig für Beziehung zu Narzissten ist
  • Wer keine klaren Grenzen hat
  • Wer nicht Nein sagen kann
  • Wer gelernt hat, sich anzupassen
  • Wer Auseinandersetzungen vermeidet
  • Wer gelernt hat, Wut und Ärger nicht zu spüren
  • Wer gelernt hat, inakzeptables Verhalten zu tolerieren

Literatur

Klaus Eidenschenk – Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten

Marie-France Hirigoyen – Die toxische Macht der Narzissten und wie wir uns dagegen wehren